Sonntag, 21. Dezember 2008

Meine Großmutter Marie Nehyba

Meine Großmutter Marie Nehyba, geb. Sendler (das Foto links zeigt sie etwa 1925), wurde als erstes Kind der Eheleute Johann Sendler und Franziska Ohnhäuser am 25.8.1894 in Sternberg (tsch. Šternberk) in Mähren geboren und starb am 8.12.1973 nach einem Schlaganfall in der Neurologischen Klinik Gießen. Sie wuchs mit zahlreichen Geschwistern, wovon nur der Bruder Karl und die Schwester Margarethe das Erwachsenenalter erreichten, in sehr ärmlichen Verhältnisse in der Umgebung der Sternthalstraße auf. Nach Hessen gekommen war sie 1946 aus Liebauthal im Egerland. Dorthin war sie etwa 1934 als Weberin für die Firma Noe Stroß A.-G. von Nordböhmen aus umgezogen, nachdem sie sich einige Jahre davor von ihrem Ehemann, dem ebenfalls aus Sternberg stammenden Alois Nehyba getrennt hatte (Hochzeitsfoto weiter unten). Wahrscheinlich ab 1941 stand sie im Dienste des deutschen Roten Kreuzes als Oberschwester eines Reservelazaretts in Babylon bei Taus (tsch. Domažlice) im Böhmerwald. Nach Kriegsende wurde sie von der US-Besatzungsmacht für einige Monate als leitende Krankenschwester zur Pflege ehemaliger russischer Kriegsgefangener in Falkenau/Sokolov verpflichtet. Pflegedienst hatte sie wahrscheinlich schon während des 1. Weltkriegs verrichtet, und noch in den 1950-er Jahren, jetzt bereits Frührentnerin, beteiligte sie sich ehrenamtlich an Einsätzen als Rot-Kreuz-Schwester, etwa bei Schulfesten, und einige Jahre stand sie auch im Dienst der Bahnhofsmission in Gießen. Gelebt hat sie von 1946 bis zu ihrem Tod in Krofdorf-Gleiberg bei Gießen, davon mehr als ein Jahrzehnt als Mieterin im dortigen evangelischen Pfarrhaus, in ihren letzten Jahren im Eigenheim ihrer Tochter Marie Träger, geb. Sendler, und deren Ehemann Josef Träger.

Im Jahre 1970 nahm ich Schilderungen über ihre Kindheitsjahre und von Ereignissen ihres späteren Lebens mittels Tonband auf, die im Folgenden wörtlich wiedergegeben werden, wobei von mir verfasste Ergänzungen in Klammern und Kursiv markiert sind:

Bröckle holen

„Ich war die Älteste. ‚Da haste 5 Kreuzer (sagte ihr Vater Johann Sendler, Altersfoto links), jetzt gehst du zum Schwarzen Adler’, ein Hotel (in der Breiten Gasse, heute kein Hotel mehr), und holst mir Bröckle’. Das war von den Tellern, was die Herren nicht aufgegessen haben, aber nicht, was sie schon im Mund hatten. Ich hab mich so geschämt zum Bröckle gehen. Bin ich neingegangen. ‚No, was willste?’. ‚Für 5 Kreuzer Bröckle’. Dann bin ich heimgekommen und habe es hingestellt. ‚No, das ist aber wenig’ (sagte der Vater zu ihr). ‚Na, für 5 Kreuzer halt’. Dann hat er alles abgekratzt (von den Käseresten), auch das Harte hat er alles abgeschabt. Das hat er gegessen. Bei uns in Sternberg war ein Käsemacher (Nowak, Lichtenthalstraße, tsch. Svĕtlov, deren Nachfahren 2005 noch in dem Haus lebten), der hat Quargeln (Handkäse) gemacht. Bin ich heimgekommen, hat der Vater gesagt ‚hul ma mol um 3 Kreuzer Bröckle’. Da musste ich auch hingehen um Bröckle. Einmal haben sie gegeben, das war schon ganz schwarz und dunkel. Das muss ganz alt gewesen sein, du lieber Gott. ‚Ja’, hab ich gesagt, ‚Frau Nowak, die sind doch schon schlecht’. ‚Na, na’, hat sie gesagt, die sind nicht schlecht, die sind olt, da wird der Voter essen!’. Die haben gestunken! ‚Kumm, setz dich her, Mariele, kumm und iss’, sagte der Vater. ‚Ach’, sagte ich, ‚da ess ich doch lieber ein trockenes Stückel Brot’.“

Von Budiken in Sternberg . . .

„Unser Vater hat nicht viel getrunken. Da gab es früher kleine Glasln mit einem schmalen Hals, das war ein Achtele oder ein Sechzehntel, dann gab es Viertele. Um achte war er noch nicht daham. ‚Hol omol den Voter’, (pflegte dann die Mutter Franziska Sendler, geb. Ohnhäuser *30.5.1863 in Petersdorf + 10.4.1922 in Sternberg - Foto rechts - zu sagen). ‚Och’, sagte ich, ‚schon wieder’. ‚Hopp, hopp’, sagte sie. Da bin ich geloffen, ich hab schon gewusst wohin, der hatte immer eine Budik, da waren zwei Budiken in dem Haus, vorne war ein bissl der Mittelstand gesessen, die vielleicht auf der Post waren, also die Besseren, und hinten das Volk. Ich geh nein, vorne war der Budiker, der hatte fünf Söhne, alle fünf haben studiert, hinten die Schenk. Sauber hat es ausgesehen. Unser Vater hat immer aufschreiben lassen, ein Sechzehntel oder Achtel. Da wusste ich schon, wo er sitzt. ‚Ha’, hat er gesagt, ‚mei Ritschel kummt’. ‚Voter du sollst hamkomme’. ‚Kumm, setz dich und iß a Semmel’. ‚Ich mog ka Semmel, kumm ham’. Dann hat er ausgetrunken, und die Chefin fragte: ‚Noch a Achtele?’. ‚Na, na’, sagte er, ‚mei Polizei is do, ich muss hammgehn’“.

. . . und leichten Mädchen

„Da hatte es (fuhr sie fort) bei uns im Sternthal solche Nutten. Der Peter war ein Großbauer, dort waren die Eiskeller. Und dort ist so ein schmales Bachle, und dorthin sind sie dann gegangen mit ihrem Spezi, wenn er recht besoffen war. Eine hat Butter-Jule geheißen, die andere Till-Gret und eine Hühnchen. Ich hab die alle gekannt. Da verkehrte die Mutter bei einer Familie, sie hat mit einem gelebt und hatte drei Söhne, und bei der sind auch die Nutten manchmal hingekommen. Damals habe ich mir nichts draus gemacht. Die Mutter sagte: ‚Kumm nach der Schul zur Heder-Maam’. Maam (Muhme, Tante) oder Vetter haben sie gesagt. Die haben in der Bogengasse (tsch. Oblouková) gewohnt. Die Heder-Maam hat mir ein Tipfel Kaffe und ein Stückel Brot gegeben. Da klopft’s. ‚Herein’. Kommen zwei Polizisten und haben nach der Till-Gret gefragt. Sagte die Heder-Maam: ‚Ja, dort schläft sie’. Die hat hinterm Ofen geschlafen. Da haben sie sie geweckt. Fragt sie: ‚Was is’n?’. ‚Stehn Sie erst mal auf’, sagte einer der Polizisten. Ach, das waren ja auch so polizeiliche Männer, nicht so wie heute, so richtig auf Zack. Da ist sie aufgestanden und sagt: ‚No, wos is’n?’. Da sagt einer: ‚Sie worn gestern mit dem und dem zusammen’. ‚No ja’, sagte sie, ‚der hat ma ein kaft’, na, meint sie: einen Schnaps gekauft. ‚Na, na’, sagte der Polizist, ‚Sie worn mit ihm so zusammen’. Sie: ‚No, schaut einmal an, hat er’s wohl gesagt?’. Der Polizist: ‚Nein, die Uhr ist weggekommen. Geben Sie sie freiwillig her?’. Sie hat es erst bestritten, sie habe die Uhr nicht. Dann haben die gesagt, ich war so neugierig, sie soll die Uhr hergeben, dann wird nichts gemacht. Da hat sie gesagt: ‚Ja, ich hab ihm die Uhr weggenommen, aber ich hab sie nicht mehr. Die ist nit gonge und do hab ich sie weggeschmissen. Wohin weiß ich nimmer, ich hatte einen sitzen’. Der Polizist: ‚Da müssen Sie die Uhr bezahlen, der Mann macht eine Anzeige’. Da sagt sie: ‚Der kann ruhig eine Anzeige machen, denken Sie, ich lass umsonst leiern’. Ich hab aber nicht gewusst, was das ist. Ich hab die Mutter gefragt: ‚Was hat er denn geleiert?’“.

„Die Butter-Jule (erinnerte sie sich weiter) hat immer in einer Ecke gestanden, wenn sie zum Vergeben war, beim Haus vom (Adolf) Kubelka, ein Brauereibesitzer, wo die Kanzlei war (im Bereich der Straße Babitzgasse, jetzt Babicka). Na, wenn halt einer Lust hatte, sagte er: ‚No, Jule, kumm’. Die hat immer 50 Heller gekriegt. Denk mal, so war das früher bei uns“.

Zur Arbeit nach Waldenburg in Niederschlesien
Wahrscheinlich ohne Berufsausbildung verließ Marie Sendler um das Jahr 1911 Sternberg und ging nach Deutschland ins niederschlesische Ober-Salzbrunn bei Waldenburg. Zu diesem Schritt soll sie von ihrer Freundin „Ritschi“ Mechal (auf dem Foto links neben ihr), die ebenfalls aus dem Sternthal stammte, sich aber bereits in Deutschland aufhielt, veranlasst worden sein. In Waldenburg bekam sie Arbeit in einer Porzellanfabrik als Dekormalerin. Wollte sie ihr Elternhaus in Sternberg besuchen, musste sie eine recht lange Bahnfahrt bewältigen. Auf einer solchen Heimfahrt an einem Heiligen Abend strandete sie in einem Grenzort, wo man, wie sie sich erinnerte, „von Böhmen nach Dresden rübergefahren ist“. Was sie dabei erlebte, schilderte sie mir so:

Heimfahrt ohne Pass im Bremserhäuschen

„Ich war im Bahnhofsgebäude, es war niemand da außer ein paar Soldaten. Ich dachte: ‚Was machst du denn da?’. Da kommt ein Bahnerer, der Bahnhofsvorsteher mit der roten Mütze, und sagt zu mir: ‚Na, ich glaub Fräulein, wir sind miteinander einsam’. ‚Ja, so sieht es aus. Ich habe meinen Pass vergessen, ich kann doch hier nicht sitzen bleiben, bis sie mir den Pass geschickt haben’. Da fragte er: ‚Wo fahren Sie denn hin?’. ‚Nach Sternberg, hinter Hannsdorf dort rauf’. Sagte er: ‚Das ist ja noch eine schöne Strecke. Wissen Sie was, dann kommt ein Güterzug, wenn Sie wollen, können Sie mit-fahren. In einen Hüttelwagen setzen Sie sich rein, ich sag’s dem Lokführer und dem Zugführer. Der bleibt ja in Sternberg stehen, oder wenn nicht, ich muss mit dem Zugführer reden’. Sag ich: ‚Wenn Sie’s machen könnten’. ‚Ja, ja’. So in einer halben Stunde kam der Zug angefaucht. Ich hatte einen Koffer, ein Packerl und eine Tasche, die hab ich zusammengemacht, und ich stell mich mit dem Zeug raus. Der Zug hat gewartet, dann ist der Bahnvorsteher runtergegangen und hat mit dem Zugführer lange geredet. Da kam der her und fragt: ‚Wo wollen sie hin?’. ‚Nach Sternberg’. Sagte der: ‚Es ist keine Aufenthaltsgenehmigung in Sternberg, da müssen Sie bis Olmütz fahren’. ‚Ach’, sagte ich, ‚da muss ich mit dem Gepäck ja wieder zurückfahren’. Aber das sei doch besser, als wenn ich hier die ganze Zeit verbringen müsse. Dann fragte ich: ‚Werden die Zollbeamten noch was unternehmen wegen mir?’. ‚Ach’, sagte er, ‚ich glaub kaum’. ‚Ach’, sagte ich, ‚halten Sie doch in Sternberg’. Sagte er ‚wird’s schwer halten, ich werd einmal mit dem Lokführer reden’. Das hat er gemacht, ich soll herkommen, sagte (der Lokführer). ‚Am Bahnhof können wir nicht halten, aber hinter Sternberg auf Olmütz zu, da wird ein kurzer Aufenthalt sein. Müssen Sie aber gleich aussteigen’. Damals konnte ich noch springen! Dann habe ich ganz allein im Hüttelwagen gesessen, ist ja nur so ein Kastl. So bin ich damals in der Heiligen Nacht gefahren. Gegen Morgen habe ich Sternberg gesehen. Ich dachte: ‚Wenn er in Olmütz hält, bin ich noch immer besser dran als hier zu sitzen’. Dann hat er ein Stückel hinter der Stadt gehalten, da ist schon einer gekommen und sagt: ‚Schnell, aber sehr schnell, wir müssen gleich wieder weiterfahren’. Ich wäre bald über die Stiegen runtergeflogen, hab das Gepäck hingeknallt, er hat mir die Hand gegeben, ich bin runtergesprungen, dann sind sie gleich wieder weitergefahren. Eine gute viertel Stunde musste ich zurückgehen, den Bahndamm entlang“.

Während ihres Aufenthaltes in Ober-Salzbrunn, das später den Namen Bad Salzbrunn erhielt, wohnte Marie Sendler in der Kolonie Sandberg. Dort lernte sie den ebenfalls in der Kolonie lebenden, ein Jahr älteren Maurer Paul Knospe kennen und verlobte sich mit ihm (nebenstehende Fotos aus dem Jahr 1912, siehe Anmerkung am Ende des Textes). Da sich - das erzählte mir meine Mutter - auch ihre Freundin Ritschi Mechal (siehe oben) für Knospe "interessierte", soll es bald zur Entfremdung zwischen den beiden jungen Damen gekommen sein. Vor Antritt seines Militärdienstes in Dresden im Oktober 1912 schwängerte Paul Knospe seine Braut. Zur Geburt ihres Kindes suchte meine Großmutter im Mai 1913 - da war sie noch keine 19 Jahre alt - die Provinzial-Hebammen-Lehranstalt und Frauenklinik in Breslau auf. Was sie dort und nach ihrer Entlassung erlebte, habe ich wieder auf Band festgehalten.

Eine schwere Geburt . . .

„Ich habe mir die Haare nicht aufgemacht, mit der Krone habe ich so gelegen und entbunden. Und da kommt der Arzt wieder einmal kontrollieren, nur zu mir ist er gekommen, die anderen Frauen, da war ja alles normal. Wie so die Wehen sind gekommen, ich hab sehr geschrieen, da kam manchmal die Hebamme her und sagt: ‚Ach, es ist noch nicht so weit. Wenn Sie schreien müssen, schreien Sie’. Ich wollte es oft zurückhalten und habe doch oft geschrien. Da kam auch mal der Arzt, der sagte: ‚Gell, rein geht’s leichter als raus’. Das werd‘ ich nie vergessen. Da konnte ich überhaupt keine Antwort geben. Als junges Mädchen bin ich oft ohnmächtig geworden, auch weiter als junge Frau. Ich hatte einen großen Blutverlust. Das Kind hatte einen ziemlich langen Kopf, da sagte der Arzt: ‚Das vergeht wieder, in ein paar Tagen ist es normal’. Ich musste lange im Gebärsaal liegen, obwohl jede (andere) nach zwei Stunden rauskam. ‚Schauen Sie mal Doktor, was mit dem Kind über Nacht passiert ist’. ‚Ah, die Gelbsucht, das macht aber nichts, desto schöner wird das Kind werden’, hat er gesagt, das weiß ich genau“.

„Ich kann mich nur erinnern, ich war bestimmt viel selber schuld (dass sie später schwer erkrankte), ich sollte nicht heim, ich habe schon acht Tage über der Zeit gelegen, bin drei Wochen gelegen mit Fieber, dann erhöhter Temperatur, und da kommt abends der Oberarzt und sagte: ‚Ich sage Ihnen das eine, fahren Sie nicht heim, bleiben Sie doch noch da’. Na, mit meinem Dickkopf, wenn man nicht will. Ich habe doch von nichts was gewusst, damals. Da bin ich in der Früh, vielleicht um 4 Uhr - ich dachte mir, wie wirst du denn gehen, du musst doch zum Bahnhof - rausgestiegen aus dem Bett, bin immer rumgegangen um das Bett, schrittweise. Da hat der ganze Körper, das spüre ich heute noch, die Beine runter gestochen. Ich konnte überhaupt nicht auftreten, alles hat gestochen, wie wenn einen die Hand einschläft, so pelzig war der ganze Körper“.

. . . und danach am Rande des Todes

„‚Ich fall um, mir ist so schlecht, ich fall um’.’Komm, ich halt dich’, sagte die Mutter (gemeint ist die Mutter des Verlobten Paul Knospe, in deren Obhut sich Marie Sendler jetzt befand). Der Otto, der Schwager (der Bruder von Paul Knospe), der ist gerade aus der Fabrik gekommen, der ist dann reingefahren zu dem Dr. Krakauer, mein Kassenarzt, und hat das erklärt. Der ist gleich runtergekommen und hat gesagt zu ihr (der Schwiegermutter): ‚Ja, was machen wir denn jetzt mit ihr? Können Sie sie pflegen?’. ‚Ja, was ist denn?’. Sagte er: ‚Wenn ich sie jetzt in die Klinik schicke, dann kann es sein, dass sie tot ist’. Das habe ich alles mitgehört. Ich hab nur gedacht: ‚Du schwätzt mir lang gut’. Da habe ich drei Monate gelegen, nichts essen, ich konnte trinken, Kakao mit Wasser oder mit Magermilch oder Buttermilch, in die sollte immer ein kleines Quantum Sahne reingegeben werden. Sonst habe ich nichts gegessen. Ich kann mich noch erinnern, wenn sie mich umgebettet haben, der Schwiegervater und der Schwager, meistens abends, denn Früh hatten die keine Zeit, haben die mich rausgehoben, ich durfte mich überhaupt nicht bewegen. Dann haben sie die Matratze umgedreht und mich wieder reingehoben. Wenn ich runtergerutscht bin, konnte ich mich nicht in die Höhe tun, da mussten die mich ganz vorsichtig ein kleines Stückchen raufrücken. Und der Dr. Krakauer, der kam bis dreimal in einem Tag, immer wieder. Dann ist eine Diakonisse zweimal gekommen, die (Knospes) waren evangelisch, und ich hatte überhaupt keinen Mut, ich war ganz fertig. Ich hab ständig die Augen zugehabt. Wenn sie mich was gefragt haben, (war ihre Antwort): „mh, mh“. Da hat mein Schwiegervater immer gesagt: ‚Unser Mariechen hat Angst, dass die Fliegen reinkommen, die macht den Mund nie auf’“.

„Dann einmal abends (fuhr sie fort) haben sie gesagt ‚heute stirbt sie’. Da war der Dr. Krakauer gerade in einer Sitzung. Sie mussten ihn um elfe (23 Uhr) holen. Ist er runtergekommen. Sagte sie (die Schwiegermutter): ‚Es ist erst jetzt so schlecht geworden, es ging immer noch am Nachmittag mit ihr’. Da habe ich Spritzen gekriegt und was weiß ich, was er alles verordnet hat. Ich durfte immer nur das Zeug essen, ohne Zucker, höchstens ein Blättchen Saccharin, warum, das weiß ich nicht. Dann ist er sogar am Sonntag gekommen. Jeden Sonntag, wenn er kam, stand schon seine Flasche Wein am Tisch und eine Nelke. Dann hat er Wein getrunken und immer wieder geschaut. Ich hab mich gar nicht beteiligt. Dann hat er zur Schwester gesagt: ‚Wir werden versuchen, dass sie Weinschato (gemeint ist wahrscheinlich mit Wasser verdünnter Wein, also eine Weinschorle) mit geschlagenem Ei trinkt, damit sie wenigstens ein bisschen zu Kräften kommt‘. Da hat er mir das gegeben. Am nächsten Tag sagten sie: ‚Sie kann es nicht vertragen, sie schluckt es überhaupt nicht runter’. Da meinte er: ‚Das werden wir sehen, dass sie es runterbringt. Machen sie mal den Weinschato’. Hat ihn mir löffelweise gegeben. Ich hatte alles im Mund: ‚Ich kann nicht’. Da sagte er: ‚Schluck!’. Statt schlucken, ist alles wieder rausgekommen. Darauf sagte er: ‚Können wir nicht geben’“.

„Eine Frau (erzählte sie weiter), die war vom Bahnvorstand in Salzbrunn, die hatte das erste Kind gehabt. Die hatte dieselbe Krankheit, die haben Ärzte, Professoren von Berlin und Wien kommen lassen. Sie ist gestorben an der Krankheit. Das Blut ist geronnen, das ganze Blut ist geronnen, so haben sie damals gesagt. Das Blut hat sich zersetzt, Zersetzung, so hat es auf meinem Krankenschein gestanden“. (Es dürfte sich in beiden Fällen um eine „Verbrauchskoagulopathie“, eine schwere Blutgerinnungsstörung, gehandelt haben, deren Ablauf erst viele Jahre später im einzelnen erforscht wurde).

„Dann hat endlich das Fieber etwas nachgelassen. Die Mutter (Franziska Sendler) ist dann (aus Sternberg) rübergekommen (um den Säugling mit zu nehmen). Der Vater von der Mizzi (wie das Kind Marie fortan genannt wird) hat dann Urlaub (vom Militärdienst) gekriegt und ist von Dresden gekommen. Ich war so teilnahmslos. An einem Nachmittag kommt eine Frau zu Besuch, sagte die Schwiegermutter zu ihr: ‚Komm doch mal rein, komm doch mal sehen’. Ich habe in einem Zimmer ganz allein gelegen. Da haben die beiden über mich debattiert, das habe ich gehört, aber nichts dabei gedacht. Sagte die Frau ‚Du wirst einmal rein kommen und sie ist tot’. Wenn ich mir nur etwas dabei gedacht hätte, gar nichts! Dann ist es langsam mit mir aufwärts gegangen. Hat der Arzt gesagt: ‚Wir müssen ihr was anderes zu essen geben, ein bisschen mehr Sahne in den Kakao’. Dann habe ich Appetit gekriegt. Ich war dürr wie ein Stab. Da hat er gesagt: ‚Wir werden jetzt probieren. Sie können jetzt ab morgen mal aufstehen, 5 Minuten, nicht länger. Sie ziehen sich jetzt schön langsam an’. Ich habe mich vielleicht eine Stunde lang angezogen. Bis ich die Strümpfe angezogen hatte! Der Rock war viel zu weit, er ist runtergefallen. Gehen konnte ich nicht, ich hab erst müssen laufen lernen. Da haben mich der Schwiegervater und der Schwager geführt, mehr getragen kann man sagen, und dann in einen Korbstuhl gesetzt. Da habe ich gerade so richtig gesessen und zweimal zum Fenster raus geschaut, dann musste ich wieder rein ins Bett. Danach konnte ich immer ein paar Minuten länger aufbleiben. Dann sagte der Arzt: ‚Jetzt aber fangen wir an zu essen’. Da hat der (Schwager) Otto gesagt, der hatte Tauben im eigen Schlag gezüchtet: ‚Ich schlachte eine Taube’. ‚Ja, das kann sie essen, ganz leicht gebraten, ganz leicht geschmort, Kartoffelpüree dazu’. Bis ich bin zum erstenmal raus gegangen, das hat lange gedauert, im August oder September. Da hat ein so großer Artikel in der Zeitung gestanden. Der hat sich so gefreut, der Dr. Krakauer, dass er mich aufgebracht hat, er hat bestimmt mit einem Todesfall gerechnet. Ich hör ihn noch sagen: ‚Ich freu mich mehr wie vielleicht die Patientin selbst’. Und die Frau (des Bahnhofsvorstehers) ist gestorben“ (damit endete die Schilderung ihrer langen Wochenbetterkrankung).

Das Kind Marie war etwa 4 Wochen alt, da holte es die Großmutter Franziska Sendler zu sich nach Sternberg, in deren Obhut es dann rund 8 Jahre bis zur Heirat seiner Mutter (siehe weiter unten) blieb. Die Goßmutter war mit dem Zug nach Breslau gefahren, das Geld für die Zugfahrt musste sich ihr Ehemann Johann Sendler von seinem Arbeitgeber, einem Großbauern in Sternberg, leihen. Das Bild wurde bereits in Sternberg aufgenommen und als Postkarte an die erkrankte Wöchnerin gesandt. Es zeigt neben der Großmutter des Kindes seine Tante Margarethe "Grete" Sendler (*16.1.1908 in Sternberg, +6.7.1978 in Günzburg), und den Onkel Karl Sendler (*30.12.1901 in Sternberg, Holzgasse 55, beerdigt 26.1.1925 in Sternberg).

Nach Genesung der Kindsmutter ist es, angeblich von ihr ausgehend, zum Bruch mit ihrem Verlobten Paul Knospe gekommen. Sie habe sich - so jedenfalls ihre Darstellung mir gegenüber - von ihm getrennt, nachdem ihr eine Freundin, möglicherweise jene bereits erwähnte Ritschi Mechal, gesteckt habe, er sei mit einem anderen Mädchen gesehen worden. Sie kehrte nach Mähren zurück und war in den ersten Jahren des 1. Weltkrieges im Bahnhofsrestaurant von Prerau (tsch. Přerov), einem Bahnknotenpunkt südöstlich von Olmütz (tsch. Oloumuc), beschäftigt. Über eine Episode aus dieser Zeit, eine Begegnung mit Kaiser Karl I. (1887 – 1927), Nachfolger und Großneffe von Kaiser Franz Josef und bis zu seiner Abdankung 1918 letzter Herrscher der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, erzählte sie mir Folgendes:
„Der Kaiser Karl war eine so versoffene Type“„Da kam Kaiser Karl. Der ist statt des Erzherzogs (Franz) Ferdinand (Kaiser geworden). Was das für ein Spross war, weiß ich nicht, ein Habsburger, na klar. Die sind ausgestiegen. Die kamen ja meist auf dem 1. Gleis an. Da wurden Teppiche bis in den Speisesaal gelegt. Und da hat er dort gesessen mit den Offizieren. Die haben dort gegessen, obwohl der Extrazug einen Speisewagen hatte. Er hatte einen Ulanenmantel an, ein kurzer Pelz, nicht zugeknöpft, er ist nur mit einer Schnur vor dem Hals zusammengehalten. Das war so abgeschirmt, die Militärkapelle hat gespielt und niemand durfte rein, nur die Kapazitäten von Prerau, obwohl Prerau tschechisch war, aber das hat damals nichts ausgemacht. Damals waren sie aufgescheucht wie die Hühner, wie ich um 8 Uhr früh durchgekommen bin. ‚Kaiser Karl steigt hier aus’. Sie wussten nicht, was sie kochen sollten. Da haben sie im Zug angerufen, was der Kaiser Karl gerne isst. Es war doch alles tschechisch dort, das Personal, nur einige Deutsche. Hab ich gefragt: ‚Was wird denn gekocht?’. Da hat mir der Haller-Rudolf, der Bruder vom Chef - der wollte mich heiraten, der Kerl, ein echter Wiener, da wäre es mir besser gegangen, gell - gesagt, dass sein Leibdiener gesagt hatte, dass der Kaiser Karl ihm überhaupt keine Antwort gegeben hatte, aber sie sollen was Gutes kochen. Da haben sie Böhmische Küche gemacht“.

„Die 1. Klasse musste geräumt werden, die Ober haben nur in Frack bedient, alles war weiß gedeckt. Fast die Hälfte des Speisesaals war nur mit Offizieren und Adjutanten belegt. Da ist er ausgestiegen, sie haben im letzten Moment alle zusammengetrommelt, die weiblichen Tschechen und Kinder in Tracht. Das war doch die Hanakei, die hatten schöne Trachten, Spitzenhauben. Wie er ausgestiegen ist, ich seh‘ das heute noch, ich hab vom Schankzimmer aus geschaut, sind zwei junge Mädchen vorgetreten, hatten auf einem Holzteller Brot und ein Messer und haben ihm Brot abgeschnitten. Dann hat die Musik gespielt, lauter Trompeten, das war ein Lärm. Es war Anfang des Krieges, der Franz Josef war schon in Pension. Es wurde erzählt, er habe in seiner Residenz in Wien auf einer Bank gesessen und sinniert, es konnte ihm nicht eingehen, dass er nicht mehr regieren kann (tatsächlich gelangte Karl 1916 erst nach dem Tod seines Großonkels Kaiser Franz Josef auf den Kaiserthron). Der Karl war eine so versoffene Type (beendete sie die Schilderung dieser Episode), der hat mir gar nicht gefallen, der konnte damals 30 gewesen sein“.

Eine berufliche Chance

Gegen Ende des Krieges war sie immer noch in Prerau, jetzt aber wohl schon seit einiger Zeit als Pflegerin in einem Lazarett, aus dieser Zeit erinnerte sie sich so:

„Dann hat mir das Pflegen gar nicht mehr gefallen, ich hätte mehr verdienen können. Da sagte der Chefarzt Himmel, eine Jude, ein Pole, der ist während des Krieges schon heim nach Polen mit seiner Familie, zu denen war ich öfters eingeladen, bin mit dem Jungen spazieren gefahren, der sagte: ‚Ich will Ihnen einmal etwas sagen, wenn Sie nicht wollen, gehen Sie doch in die Kavalleriekaserne raus. Sie kennen doch den Oberst dort. Sie können doch Maschinenschreiben‘. ‚Ja‘, sag ich, ‚aber ob ich’s noch so gut kann?‘. ‚Aber doch, Sie haben doch Aufstiegsmöglichkeiten‘. Ich war blöd, dass ich das nicht gemacht habe. Er hat aber einmal mit ihm (wohl mit dem Oberst) gesprochen. Da kommt er einmal heim und sagt, ‚Sie können hier bleiben’, solange er dort sei (vermutlich im Lazarett). Seine Frau war schon fort. Er hat sogar schon einen Platz ausgemacht, wo ich schlafen könne, bei einer Hebamme, auch eine Jüdin, die die zwei Kinder (Dr. Himmels wohl) zur Welt gebracht hat. ‚Sie müssen aber rausgehen in die Kaserne und sich einer Prüfung unterziehen‘. Na, das hat mir nicht gerade gefallen. Dann ging ich doch raus“.

Ob sie die ihr vermittelte Stelle angetreten hat, blieb unerwähnt, sie hat sich aber vermutlich noch einige Zeit in Prerau aufgehalten, was aus dem Folgenden hervorgeht:
Unerwarteter Weihnachtsbesuch„Einmal bin ich von Prerau heimgefahren. Da kommt einer vom Kommando zum Bahnhof, wir haben uns gekannt, und sagt zu mir, er habe einen ganzen Ballen Stoff, die hatten ganze Berge Stoffe, und ich hab einmal gesagt ‚kannst mir einmal einen schönen Stoff zurechtmachen, ich hätt’s nötig, einen ganzen Ballen Stoff kann ich nicht brauchen, aber ein Stück davon‘. Da bringt er es unterm Arm, ich hab ihm ein paar Zigaretten dafür gegeben, und da hab ich einen Puppenwagen gekauft, einen Korbwagen (rechts Foto ihres Kindes Marie mit dem Puppenwagen), dann das Packerl Stoff - ich dachte gar nicht, dass ich am Heiligen Abend heim-fahren konnte, mit dem Zug um 8. Man fährt von Prerau gar nicht lang nach Sternberg. Steig ich dann in Sternberg aus, vielleicht um zehn, elf. Keine Katz auf dem Bahnhof, der liegt ein bisschen einsam (tatsächlich etwa einen Kilometer vom Stadtkern entfernt). Ich hab niemanden gesehen und gehört, den Kinderwagen, den Koffer und das Paket unterm Arm. Ich musste den ganzen Weg heimgehen. Früher waren doch am Heiligen Abend die Leute alle auf den Straßen, überall ist Gesang zu hören, die Lichter haben gebrannt. Da komm ich schon ins Sternthal runter und denk ‚Gott sei Dank!‘. Komm ich heim, die Haustür war auf, warm war’s drinnen. ‚Je, die Marie kommt, je, je‘. Sie haben Mühle gespielt, selber gemacht. Da waren ein paar Weiber, ein paar Männer, der Karl (ihr Bruder) ist so herumgezogen. Die Grete (ihre Schwester) hat dort gesessen. Dann hat der Vater einen langen Zeiger gemacht, einen Stab mit einer Spitze, am Tisch ein Loch und dort den Zeiger angenagelt. Dann hat er mit Kreide darum herum eine Uhr gemalt. Jeder hat ein Packel Pfeffernüsse oder Zuckerl. Wer die höchste Zahl geschleudert hat . . . „ (Abbruch der Bandaufzeichnung).

Während ihres Aufenthalts in Prerau, doch schon nach dem Krieg, wurde sie Zeugin judenfeindlicher Szenen seitens von Tschechen:„Eines Tages haben sie die Wucherer, die Geschäftsmänner, da haben die Tschechen einen Galgen gemacht mit einer Schlinge. Sind sie von einem Geschäft zum anderen gegangen. Ich sage dir, die haben sich bekackt, beziescht vor Angst. Die Geschäftsleute in Prerau waren ja meistens Juden, genau so wie in Sternberg. Wer ein Geschäft hatte, war meist ein Jud. Ich will nicht sagen, dass sie schlecht waren. Da haben wir geschaut. In einem Haus war eine bekannte Dame von dem Chefarzt Himmel, die war so nett, ich bin dann später auch hin und wieder hingegangen, deren Mann war ein Kaufmann, ein Geschäftsführer, den haben sie auch geholt, der hat sich bekackt, sie musste mitgehen“.

HeiratAm 7. August 1921 heiratete sie den ebenfalls aus Sternberg stammenden und ihr aus der Schulzeit bekannten Alois Nehyba (*4.4.1894, +11.9.1981), einen gelernten Kunstgärtner (Hochzeitsfoto, vorne links ihre Tochter Marie, ganz rechts ihre Schwester Margarethe, daneben ihre Mutter Franziska Sendler, geb. Ohnhäuser, hinten ihr Bruder Karl, daneben ihr Vater Johann Sendler).
Das Ehepaar bezog eine kleine Wohnung in der Nähe in der Schlangengasse als Mieter einer „böhmischen“ (also tschechischen) Familie Bargel und nahm jetzt das Kind Marie zu sich - gegen den Widerstand der bereits schwer kranken Großmutter des Mädchens, bei der es aufgewachsen war. Der Ehemann arbeitete in einem Sägewerk, sie, nachdem sie Weben gelernt hatte, in der Weberei Johann Homma im Bereich Bäckergasse/Bogengasse, tsch. Pekařska/Oblouková.

Samstag wird arbeitsfrei

War es damals, also in den 1920-er Jahren, in der Industrie noch selbstverständlich, an den Samstagen zu arbeiten, kam es in der Weberei Homma zu einer bemerkenswerten Veränderung:

„Da hat er (wohl der Chef der Weberei Homma, links eigenes Foto der ehemaligen Weberei von 2004) uns Arbeiter zusammenkommen lassen und gesagt: ‚Wie wär’s denn, dass ihr abends die ganze Woche eine halbe Stunde länger arbeitet und der halbe Tag am Samstag wäre frei‘. Da hatten wir statt um 5 um ½ 6 Feierabend. Da haben wir uns natürlich auf den Samstag gefreut. Es hieß aber, wenn es einmal so ist, dass Ware raus muss, müssten wir schon an einem oder zwei Samstagen arbeiten. Am Samstag hätt‘ ich mich zerreißen können. Er (der Ehemann) ist (zur Arbeit) fortgegangen, die Mizzi in die Schule. Ach, dachte ich mir, eine halbe Stunde legst du dich noch, ich hab doch so gern geschlafen, wie heute noch, nur eine halbe Stunde. Auf’s Bett gelegt. Wenn ich erwacht bin, war’s meistens halber neine (8.30 Uhr). Denk mal, was ich in der Zeit gemacht hätte! Dann hab‘ ich mich geärgert, dass ich so dumm war. Am Samstag ist alles, aber auch alles gemacht worden, da ist die Wäsche gewaschen worden, dann musste ich schnell einkaufen laufen, dann hab‘ ich aufgeräumt, dann Mittagessen gekocht. Samstag hat er sich eingebildet, der Nehyba, muss ihm das Essen (zur Arbeit) gebracht werden. Dabei ist er um ½ 3 (14.30 Uhr) heimgekommen. Da hab‘ ich das Essen genommen und hab' es bis zur Bürgerschule getragen, der Mizzi die Schultasche genommen, und sie ist gelaufen und hat das Essen runtergetragen. Dann ist das Geschirr gewaschen worden, dann hatte ich noch zu Waschen, die Stube, das Vorhaus, die Wäsche gießen, ich hab gar nicht gewusst, was ich machen soll. Der Samstag war immer furchtbar für mich, da hab‘ ich mich direkt aufgerieben. Dumm war ich, das war doch nicht notwendig. Sonntag musste Gebackenes sein zum Kaffee. Da war ich schon mit allem fix und fertig, es war halber sechse oder siebene, Nachtmahl essen. Da sagt er: ‚Hust was gebocken?‘. ‚Nee, nee, morgen essen mir mal Semmeln‘. ‚Ach, bock doch was!‘. Da hab‘ ich mich hingestellt und noch was gebacken“.

Der Bruder Karl Sendler und sein Sterben

Ihr sieben Jahre jüngerer Bruder Karl, der Schuster gelernt hatte und sich im Elternhaus an der Schlangengasse (Foto des Gebäudes aus dem Jahre 2004) selbständig betätigte, heiratete etwa 1923 ein Mädchen namens Paula Rath (?) aus dem Heimatort. Sie blieben in der elterliche Wohnung Karls, nachdem der verwitwete Vater eine Nachbarin namens Schenk geheiratet hatte und in deren Haus umgezogen war. Das Paar bekam ein Kind namens Irma. Aber Karl war bereits vor der Eheschließung an Tuberkulose erkrankt. Franz, sein Halbbruder, den die Mutter Franziska Ohnhäuser mit in die Ehe gebracht hatte, war bereits mit 14 Jahren daran verstorben und noch auf dem alten Friedhof, dem heutigen Park von Sternberg, beerdigt worden. Trotz Krankheit musste Karl, um die kleine Familie zu ernähren, weiterhin als Schuster arbeiten, ehe er bettlägerig wurde. Eines Tages nun rief er seine Schwester Marie zu sich und zeigte ihr, dass seine Beine angeschwollen seien. Unter Lungenkranken hieß es damals: Wenn die Beine anschwellen, naht das Ende. Doch die Schwester beruhigte ihn und rief den Arzt, der ihm eine Medizin gegen die dicken Beine verschreiben sollte. Den Ablauf des Geschehens vom Arztbesuch bis zum Tod des Bruders an einem Samstag und dessen Begräbnis auf dem kommunalen Friedhof von Sternberg (laut Begräbnisbuch am 26.1.1925) beschrieb sie mir dann so:

Da hat der Regler (wohl der Hausarzt, damals wohnhaft in der Olmützer Straße) was verschrieben und ist dann rausgegangen, ich geh ihm nach, er hat so mit den Augen gewunken und dann gesagt: ‚Die heutige Nacht wird er wohl nicht überleben‘. Aber die hatten keine Geld, weil der Karl Alleinverdiener war (und es hieß): ‚Wer wird denn die Medizin bezahlen?‘. ‚Ach‘, sagte ich, ‚da muss man zum Stephan gehen‘, das war so ein Armenvater, wie von der Fürsorge. ‚Ja, dann geh zum Herrn Stephan und lass dir’s abstempeln‘ (gemeint war wohl Karls Frau Paula). Die: ‚Ach, die Irma ist so unruhig‘. Indem kommt die Mizzi aus der Schule. Da hat er zu ihr gesagt, sie war 8 oder 9 Jahre alt (tatsächlich bereits 11): ‚Lauf doch mal schnell und hol mir die Medizin‘. Da sag ich: ‚Da muss man erst zum Stephan gehen, sonst kriegt sie die Medizin nicht‘. Bin ich mit ihr in die Stadt gegangen, war keine 10 Minuten, und bin in die Kaisergass (die „neue Olmütz-Troppauer Straße“) zum Stephan, hab es abstempeln lassen und sag: ‚Jetzt geh in die Apotheke, lass dir die Medizin geben, ich geh heim‘ (nach Erinnerung meiner Mutter musste sie allein zu jenem Herrn Stephan gehen, der zunächst nicht zuhause war). Ich gehe rüber und da hat er immer so geschaut, so geschaut. Die Paula ist rausgegangen, und da hat er gesagt: ‚Hätt‘ ich doch auf dich aufgehorcht. Dass ich wenigstens noch 3, 4 Jahre leben könnt, dass ich mein Kind noch seh‘. ‚Ach‘, sagte ich, ‚Karl, wenn du wirst die Medizin haben, geht dir’s wieder besser‘. Hat er mit dem Kopf geschüttelt, nichts gesagt. Und jede paar Minuten hat er auf die Uhr geschaut und ge-sagt: ‚Sie kommt noch nicht mit der Medizin‘. Dann ist sie geloffen kommen, ganz außer Atem. Dann mit dem Löffel die Medizin gegeben. Dann hat er mit ihr geschimpft, warum sie so lange geblieben ist, sagte sie: ‚Die ist doch erst gemacht worden‘. Nach-mittag kommt der Paula ihre Mutter, hat sich auf die Ofenbank gesetzt und gestrickt. Nachmittags ist der Nehyba in die Schicht gegangen auf der Brettsäge. Sag ich: ‚Geh doch mal zum Karl rüber, wenn du wirst heimkommen um zehn, lebt er bestimmt nicht mehr‘. Ist er rübergegangen mit mir. Sagte er: ‚Karl, was mochst’n?‘. Sagt der: ‚Was warn ich’n mochen, verrecken‘. ‚Ach‘, sagte der Nehyba, ‚geh, hör auf!‘. Sagt der Karl: ‚Jetzt is‘s aus‘. Der Nehyba wusste nicht, soll er ihm die Hand geben oder nicht und sagte: ‚Bis ich ham komm um zehn, komm ich schnell rüber, da geht’s dir besser‘. Da hat der (Karl) gelacht, so wie ‚Du bist ja blöd‘. Ich war den ganzen Nachmittag drüben, den ganzen Abend noch. Um fünfe (17 Uhr) dann sagt er: ‚Ich was gor ni, mir is so komisch‘. Nicht schlecht, aber viel Auswurf hatte er. (Sie fragte ihn:) ‚Karl willst essen?‘. ‚Na‘. (Hier schiebt die Erzählerin ein:) Und denk mal, die Kleine hat immer neben ihm geschlafen und die Paula auch. Wir waren auch viel drüben, und er hatte offene TB. (Und fährt fort:) Dann war’s nicht ganz siebene (19 Uhr), da sagte er: ‚Ich krieg meine Medizin‘. Ich bin nüber geloffen, drüben war das kleine Haus, wo der Vater hat gewohnt mit der Schenk (die zweite Frau von Johann Sendler), ich hab ans Fenster geklopft und sag: ‚Vater, kommt einmal rüber‘. Sagt der Vater: ‚Ist’s so weit?‘. ‚Ja‘. Und da ist er rübergekommen, zum Bett hingegangen und sagt: ‚No Karl‘. Der hat aber nichts mehr geredet, hat ihn nur so angeschaut. Ich sag dann: ‚Jetzt is es vorbei‘. Um siebene (19 Uhr) ist er gestorben. Fängt die Paula an zu brüllen, hab sie genommen und raus gesteckt. Ich weiß nicht, ob was Wahres dran ist, aber wenn man so schreit, kommen die meistens noch einmal zu sich. No und die Schenkin, die hat zu beten (angefangen), niederknien mussten alle. Ich und der Vater haben ihn gleich angezogen, das Gesicht gewaschen, die Hände, er war ja noch warm. Niemand hat sich getraut ihn anzurühren. Sonst hatte sie eine große Gusche (Mundwerk), die Schenkin. Dann habe ich ihm ein weißes Hemd angezogen und seinen blauen Anzug. Am nächsten Tag bin ich früh zum Arzt gegangen, der ist hinter gekommen zur Leichenbeschau. Dann bin ich zum Schedler-Tischler gegangen und der sagt: ‚Da muss ich heute arbeiten‘. Er hat den Sarg gemacht, er ist schwarz lackiert worden. Die haben den Sarg vielleicht um drei gebracht. Er ist nicht in den Sarg rein gegangen, er war zu lang, er hat sich gestreckt, die Knie mussten sie ihm brechen. Am Montag haben sie ihn erst geholt, am Dienstag war’s Begräbnis. Der Friedhof war ein Stück außer der Stadt. Vorher war ein Begräbnis 1. Klasse, der war schon aufgebahrt. Beim Karl: Der Pater ist mitgegangen, hat ihn eingesegnet, nichts gesprochen, weil sie nicht gezahlt haben, es muss ja alles bezahlt werden. Was das Weib (die Paula) aufgeführt hat! Geschrien. Ins Grab reinspringen wollte sie“.

Irma

„Hat gar nicht lange gedauert (geht die Erzählung weiter), ist die liebe Paula verschwunden gewesen, das Kind hat sie einem Mädchen gegeben. Kommt dessen Vater abends heim und fragt: ‚Warum ist das Kind noch da?‘. Hat sie‘s halt gesagt (wohl, dass die Mutter weg ist). ‚Hast Geld gekriegt?‘. ‚Nein‘. Kommt das Mädchen abends noch mit dem Kind zu mir und ich frage: ‚Wo ist sie (Paula) denn, was hat sie denn gesagt?‘. ‚Gor nichts‘. Vielleicht komme sie abends, vielleicht morgen. Das Kind war krank, ich hab es eingepackt und bin zum Dr. Wilhelm gegangen und habe ihm das alles erzählt. Sagt er: ‚Das Kind ist krank‘. ‚Ist’s vielleicht TB?‘. Das könne er nicht feststellen, aber das Kind müsse unbedingt ins Spital. Hab ich das Kind ins Spital gegeben. In zwei Tagen ist sie gekommen. Sag ich zum Nehyba ‚das ist die Paula’, sie macht das Fenster auf: ‚Wo ist mein Kind?‘. ‚Wo warst du die ganze Zeit?‘ ‚Ach, ich war bei der Tante (dabei könnte es sich um die „Tante Waschika“, eine in Olmütz wohnende Schwester ihres Schwiegervaters Johann Sendler gehandelt haben, an die sich meine Mutter erinnerte). Der Nehyba ist rausgegangen, geht ein Stückel die Straße rauf, und da steht ein Kerl in der Ecke versteckt. Sagt der Nehyba: ‚Was wollen Sie da?‘. ‚Ich bin mit der Frau Sendler gekommen‘. Am nächsten Tag hat sie das kranke Kind geholt. Dann ist sie mit dem Kerl öfter rumgezogen, aber das Kind hat sie nicht mehr weggeben. An einem Sonntag kam sie rüber und fragt: ‚Kannste das Kind ein paar Stunden halten?‘. Da hab ich das Kind auf dem Hof in der Sonne auf eine Decke gesetzt, es hat sich vollgemacht. Da waren im Kot wie Peitschenwürmer. Aber die ist mit dem Kind nicht zum Arzt gegangen. Dann hat sie den Kerl geheiratet und ist nach Olmütz gezogen. Von dem Kerl hat sie drei Kinder. Die Kinder haben in Kisten geschlafen, das ganz kleine in einer Wanne. Er war Maurer, sie musste daheim bleiben. Eines Tages war ihr das zu dumm, da ist sie mit einem Feldwebel abgehauen, hat die Kinder Kinder sein lassen. Kam der Mann abends heim, sie war nicht zu finden. Zwei Kinder haben sich Bauersleut genommen, er wollte es nicht. Die Kleine ist in ein Heim gekommen. Die Irma, sagte er, behält er sich. Die war damals im ersten Jahr in der Schule. Ich war damals schon in Aussig (etwa 1931). Ich bin dann gleich nach Olmütz, die Irma aufzusuchen. Komm ich dort raus und frag: ‚Wo ist denn die Irma?‘. ‚Die wohnt jetzt in der `Neuen Welt` (damals ein Neubaugebiet bei Olmütz), die ist dort bei einer Frau, die gibt ihr Mittagessen, abends bringt der Vater was mit‘. Bin ich zu der Frau gegangen. Da kommt die Irma raus und hat mich nicht gekannt. Ich sag: ‚Irma, kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch deine Tante‘. ‚Jo, Tante‘, sagte sie, ‚ich weiß schon, dass ich eine Tante habe‘. Aber gekannt hat sie mich nicht. Ich frage sie: Was machst du denn, du gehst doch schon in die Schule‘. ‚Ja, aber heute bin ich nicht in die Schule gegangen‘. ‚Warum nicht?‘. ‚Ich bin zu spät aufgestanden‘. Geweckt hat sie niemand. Bin ich zu der Frau gegangen, eine arme Frau, die sagt: ‚Er gibt mir ein paar Kreuzer fürs Mittagessen‘. ‚Ja Tante‘, sagte die Kleine, ‚da krieg ich immer Fisolen (Schnittbohnen), das krieg ich nicht runter‘. Da sind wir in die Stadt rein, und ich hab ihr ein Kleidchen und ein Paar leichte Segeltuchschuhe gekauft“.

Über das weitere Schicksal Irmas ist nichts Genaues bekannt. Laut meiner Mutter, Irmas Cousine also, habe Marie Nehyba in den 1930-er Jahren von ihrem späteren Wohnort Liebauthal (siehe unten) aus ihre Nichte Irma bei sich aufnehmen wollen, was diese aber abgelehnt habe. In einem Brief aus dem Jahre 1973 von Margarethe Tögl, geborene Sendler, damals wohnhaft in Gundelfingen an der Donau, der anderen Tante Irmas, geht hervor, dass Irma zwei Kinder habe und ihre Mutter Paula schon „das 4te mal verheiratet“ sei.

Dem untreuen Ehemann hinterher

Einige Jahre lebten meine Großmutter und ihr Ehemann als Mieter bei der bereits erwähnten Familie Bargel. Da verlor Alois Nehyba - es dürfte im Jahre 1927 gewesen sein - seinen Arbeitsplatz im Sägewerk. Weil er in Sternberg offenbar keine neue Stelle fand, absolvierte er – wie meine Mutter es ausdrückte - einen „Chaffeur-Kurs“, wohl eine Fahrschule.

Wiederum nach Darstellung meiner Mutter habe ihr Stiefvater Alois Nehyba anschließend von auswärts her, aber angeblich ohne Angabe seiner Anschrift, geschrieben, dass er eine Anstellung gefunden habe (mir erzählte die Großmutter einmal, sie habe damals ihrem Mann sogar zugeredet, eine Stelle auch außerhalb Sternbergs anzunehmen, obwohl er eigentlich gar nicht von ihr habe fort gehen wollen). Wie dem auch sei: Über einen Schuster namens Seidler, so meine Mutter weiter, und einen mit diesem bekannten Webmeister in einer Textilfabrik in Waltirsche (tsch. Valtiřov) bei Aussig an der Elbe, habe die Ehefrau aber seine Adresse (wahrscheinlich in Karbitz bei Aussig) erfahren. Daraufhin habe sie ihren Arbeitsplatz aufgegeben, die Wohnung in Sternberg Hals über Kopf aufgelöst und sei, lediglich mit einer Holztruhe (die sich ihr verstorbener Bruder vor seiner Hochzeit hatte anfertigen lassen und die sich seit 2004 im Eigentum meiner Nichte Christine Dort, geb. Träger befindet) und einem Wäschekorb, nach Waltirsche gereist. Dort habe sie Arbeit in einer Textilfabrik gefunden. Aber es gab zunächst keine Wohnung. Statt dessen sei ihr ein Schlafplatz in einem „Mädchenheim“ zugewiesen worden, wo sie längere Zeit verblieb. Die Truhe konnte sie bei einer im gleichen Haus lebenden Frau Bienert und deren Mutter Frau Wünsch deponieren, die ihr wohl auch sonst behilflich waren (Frau Bienert kam nach der Vertreibung nach Birstein bei Gelnhausen ). Von Waltirsche aus hat sie ihren Ehemann aufgesucht und dabei beobachtet, dass der an seinem neuen Wohnort mit einer anderen Frau zusammenlebt. In einer Postkarte vom 16.7.1929 an Alois Nehyba mit Adresse Karbitz läßt ein „Freund Emil“ (Dokopil, ein Friseur aus Sternberg, der nach der Vertreibung ein Friseurgeschäft in oder bei Wiesbaden gegründet haben soll) einen „Gruß an Deine jetzige Frau“ ausrichten (womit er wohl die Freundin Nehybas in Karbitz meinte).

Ausgerechnet in dieser kritischen Zeit gab die Tochter Marie ihre erste Stelle als Kindermädchen in der Slowakei auf und reiste zur Mutter nach Waltirsche, ohne allerdings deren widrigen Lebensumständen zu kennen. Dorthin kam aus Sternberg auch Margarethe Sendler, das jüngste Sendlerkind, die aber dort bald einen anderen Sternberger, den Webmeister Alois Tögl, kennen lernte, ihn heiratet und mit ihm nach Jugoslawien zog.

Irgendwann hatte sich auch die Wohnungsfrage gelöst. Marie Nehyba verlor die ihr zugewiesene Werkswohnung aber wieder, nachdem sie sich mit ihrer Firma zerstritten hatte und zog um in das nahe Großpriesen (tsch. Vélke Březno). Arbeitslos geworden, wandte sie sich an eine Bekannt, die in Liebauthal, (tschech. Libavské Údolí), Kreis Falkenau, in der Textilfirma Noe Stroß A.-G. beschäftigt war. Dorthin ging nun auch sie und fand wieder Arbeit als Weberin. Das muss etwa im Jahre 1934 gewesen sein. Von ihrem Ehemann blieb sie "getrennt lebend", von einer Scheidung sei ihr, wie sie mir selbst einmal erzählte, abgeraten worden.

Liebauthal

Zur Textilfabrik in der Kolonie Liebauthal (Foto Gesamtansicht des Ortes etwa 1930) gehörte ein Speisesaal für die Beschäftigten. Daneben boten aber auch Privatpersonen die Möglichkeit zum Mittagstisch an, unter ihnen auch meine spätere Großmutter Anna Träger, geb. Sommer, die als Kriegswitwe des 1. Weltkiegs in einer der Mietskasernen der Kolonie wohnte. Einer ihrer Tischgäste war Marie Nehyba, und bei einer dieser Gelegenheiten erfuhr mein späterer Vater Josef Träger von ihr, dass sie eine Tochter habe und soll sie gebeten haben, diese doch nach Liebauthal zu holen.

Während ihrer Zeit in Liebauthal bekam meine Großmutter eines Tages unerwarteten Besuch: Ihr Ehemann Alois Nehyba war per Fahrrad wahrscheinlich von Karbitz aus nach Liebauthal gekommen, möglicherweise um Versöhnung bittend. Doch sie hat ihn offensichtlich nicht erhört, so dass er unverrichteter Ding wieder wegfuhr. Alois Nehyba wurde als "Antifaschist" (er soll Kommunist gewesen sein) nach dem Krieg in die Ostzone ausgewiesen, wo er - da er eine Kriegerwitwe heiraten wollte - seine Noch-Ehefrau für tot erklären ließ. Um das Jahr 1969 - woher er die Adresse hatte, entzieht sich meiner Kenntnis - besuchte er meine Großmutter in Krofdorf, vermutlich ohne ihr zu sagen, dass er verheiratet ist und eine Tochter hat. Gestorben ist er, worüber seine Witwe meine Mutter brieflich informierte, 1981, fast acht Jahre nach seiner ersten Ehefrau, bei Frankfurt a. d. Oder.


Als Oberschwester in Babylon

Vermutlich nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Russland im Sommer 1941 änderten sich die Lebensumstände meiner Großmutter erneut: Sie wurde Krankenschwester des Roten Kreuzes in einem Reserve-Lazarett für verwundete Soldaten des Ost-Feldzuges in Babylon bei Taus im nördlichen Böhmerwald (Foto rechts). Wie es zu dieser Entscheidung kam, ist mir nicht bekannt, hat aber wahrscheinlich mit ihren Pflege-Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg zu tun. In Babylon, wo wir sie in den folgenden Jahren mehrmals besuchten, fungierte sie als Oberschwester. Möglicherweise hegte sie sogar Pläne, dorthin umzuziehen, denn ich erinnere mich an Gespräche zwischen ihr und meiner Mutter, in denen es um den Kauf eines Hauses (vermutlich) aus ursprünglich jüdischen Besitz ging, woraus aber nichts wurde (wie konkret diese Kaufpläne waren, ist mir nicht bekannt, habe es auch nie erfragt). Im Zusammenhang mit unseren Besuchen in Babylon hörte ich auch erstmals davon, dass Juden „vergast“ würden.

Gegen Ende des Kriegs kehrte Marie Nehyba nach Liebauthal zurück, von wo aus sie erneut als Krankenschwester einberufen wurde, diesmal von der in unserer Kreisstadt Falkenau residierenden amerikanischen Besatzungsmacht zur Pflege ehemals russischer Krieggefangener im sogenannten Amtshof. Auch dort besuchte ich sie des öfteren. - siehe: http://www.dhm.de/lemo/forum/kollektives_gedaechtnis/472/index.html

Von Liebauthal nach Krofdorf
Nach Abzug der Amerikaner im Herbst 1945 kehrte Marie Nehyba wieder zurück nach Liebauthal und sollte, wie die meisten „Deutschen“, das Land verlassen. Möglicherweise hätte sie sich dieses Schicksal ersparen können. Der neue tschechische Bürgermeister der Gemeinde namens Vilém Šwerma, einer ihrer Fabrikkollegen aus der Vorkriegszeit, fragte sie meiner Erinnerung nach, ob sie nicht wieder als Weberin arbeiten wolle, was sie jedoch ablehnte und es vorzog, zusammen mit ihrer Tochter und ihren beiden Enkeln am 16. April 1946 vom Durchgangslager Falkenau aus „ausgewiesen“ zu werden.

Und so kam sie zusammen mit uns am Dienstag nach Ostern vom Lager Finsterloh bei Wetzlar nach Krofdorf, wo sie zunächst in der Wiesenstraße 32, ab etwa 1947 in der Mansarde des evangelischen Pfarrhauses wohnte (das von mir 1952 aufgenommenes Foto zeigt sie mit ihrer Tochter Marie Träger, geb. Sendler, im Garten des evangelischen Pfarrhauses). Von dort zog sie etwa 1960 um in die Kattenbachstraße 4, nach einem Wohnungstausch in die Nummer 6 und schließlich etwa 1970 in das von Schwiegersohn Josef Träger erbaute Haus Krokelstraße 39, wo sie Anfang Dezember 1973 einen Schlaganfall erlitt, an dessen Folgen sie am 8. Dezember in der Neurologischen Klinik in Gießen verstarb.

Anzumerken ist vielleicht noch, dass sie einige Zeit nach ihrer Ankunft in Krofdorf eine Erwerbsunfähigkeitsrente wegen eines Rückenleidens zugesprochen bekam, nachdem sie zunächst „Soforthilfe-„, dann meiner Erinnerung nach sogar „Fürsorge-Empfängerin“ war. Sie war überhaupt oft krank, vor allem Magengeschwüre und offene Beine (eine Folge ihrer schweren Erkrankung als Wöchnerin) machten immer wieder Klinikaufenthalte erforderlich, so 1949 im Stadtkrankenhaus Wetzlar, 1959 in der Hautklinik Gießen, wo sie ihren 65. Geburtstag beging.

Sie war bereits über die 70, als sie am 17. Mai 1965 während des Besuchs einer Bekannten in Bad Nauheim über einen Bordstein stolperte und sich einen Splitterbruch des linken Ellenbogengelenkes zuzog. Derart lädiert fuhr sie damals ohne fremde Hilfe mit dem Zug nach Gießen, wo sie umgehend in der Chirurgischen Klinik operiert werden musste und man ihr sagte, dass der Arm wohl steif bleiben würde. Eine solche Prognose aber wollte sie nicht akzeptieren. Bereits kurz nach der Entlassung begann sie mit Bewegungsübungen, hob Wassereimer um Wassereimer bis das Ellenbogengelenk wieder einigermaßen funktionsfähig war. Das geschah alles noch in ihrer Wohnung in der Kattenbachstraße. Das Foto links zeigt sie (mit mir) 1971 bereits in der Küche ihrer Wohnung in der Krokelstraße 39, wohin sie etwa ein Jahr zuvor nach plötzlich auftretenden Schwindelattacken eher widerwillig umgezogen ist. Hier, wo sie sich bis unmittelbar vor ihrem Schlaganfall jeden Tag eine warme Mahlzeit zubereitete, erzählte sie mir, zumeist abends, die oben nachzulesenden Geschichten aus ihrem langen und bewegten Leben. Hätte ich intensiver nachgefragt, es wären sicherlich noch weit mehr geworden.


Ihre Urne wurde auf dem Friedhof von Krofdorf „kirchlich„ bestattet, obwohl sie schon in jüngeren Jahren aus mir unbekannten Gründen aus der katholischen Kirche ausgetreten war. Die Grabstelle, wohin 1981 auch die Urne meines Vaters gelangte, ist seit 2004 abgeräumt. Den Stein ließ ich umarbeiten und ihn auf das Grab meiner 2003 verstorbenen Mutter, ihrer Tochter, versetzen.
Siegfried Träger

Anmerkung: Mittels Internet und der Hilfe von Herrn Helmut Richter in Kiel fand ich 2011 eine Enkelin von Paul Knospe, dem niederschlesischen Verlobten meiner Großmutter Marie Nehyba, deren gemeinsames Kind meine Mutter wurde. Jene Enkelin, Frau Rosemarie Knospe, Kind der Tochter Paul Knospes aus seiner 1921 geschlossenen Ehe, stellte mir auf meine Bitte hin bis dahin unbekannte Fotos unseres gemeinsamen Großvaters zur Verfügung.